Das Ende der Entnazifizierung
Entnazifizierung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG)
Der Verlauf der Entnazifizierung am KWIE bildete keinen Sonderfall, sondern entsprach dem Verlauf innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) als Ganzem. Zugleich war die Entnazifizierung der KWIE- und KWG-Angehörigen wesentlich durch die Rahmenbedingungen und den Verlauf der Entnazifizierung in den Jahren 1946 bis 1949/50 insgesamt beeinflusst, sowohl durch das Vorgehen der alliierten und insbesondere der britischen Behörden als auch durch die beteiligten Akteure auf deutscher Seite. Nicht nur das KWIE, sondern auch andere Institute und die KWG-Verwaltung insgesamt, wurden im Rahmen der Entnazifizierung relativ milde behandelt. Viele Verfahren gingen – zum Teil nach Berufungsverhandlungen – glimpflich für die Mitarbeiter aus. Ehemalige NSDAP-Mitglieder wurden in der Regel entweder in die Kategorien IV oder V, also als „Mitläufer“ oder „Entlastete“, eingeordnet und konnten ihre berufliche Stellung behalten.[1] Wie viele Mitarbeiter in den Instituten der KWG insgesamt ein kurz- oder auch langfristiges Beschäftigungsverbot erhielten und die Anzahl der Entlassungen ist nicht zu ermitteln, unter anderem da in den Nachkriegsjahren eine große Mitarbeiter-Fluktuation in der KWG herrschte.[2] Auch die fehlende Kommunikation der Institute untereinander und die Aufteilung in verschiedene Besatzungszonen erschwerten die Erfassung und wissenschaftliche Auswertung der Mitarbeiter.[3] Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass nur ein verhältnismäßig geringer Anteil der KWG-Angestellten entlassen wurde, insbesondere dann, wenn es um dauerhafte Entlassungen ging.[4] Selbst aus den Spitzen der KWG wurden in den Nationalsozialismus erheblich verstrickte Persönlichkeiten oftmals nicht entfernt, sondern im Rahmen der Entnazifizierung rehabilitiert. Ein Beispiel hierfür ist etwa der frühere Generalsekretär der KWG-Generalverwaltung Ernst Telschow.[5] Nur sehr wenige als besonders belastet erscheinende Führungspersönlichkeiten durften nicht mehr in die KWG zurückkehren, sie wurden von Seiten der KWG-Spitze gewissermaßen „geopfert“, um die KWG damit stellvertretend und symbolisch von den Belastungen durch die NS-Vergangenheit zu reinigen.[6]
Netzwerke der „Persilscheinmaschinerie“
Für die insgesamt milde Einstufung der Angehörigen der KWG und somit auch der Institutsmitarbeiter des KWIE waren Stellungnahmen sowie zahlreich abgegebene Entlastungszeugnisse (sogenannte „Persilscheine“) von Kollegen, Bekannten, Geistlichen usw. ausschlaggebend, um welche sich die von der Überprüfung Betroffenen bemühten, um ihre Beurteilung positiv zu beeinflussen. Für die Beschaffung solcher Zeugnisse wurden verschiedene Netzwerke mobilisiert. Besondere Bedeutung maßen die Entnazifizierungsausschüsse ferner den Leumundszeugnissen des KWIE-Betriebsrats zu. Die „Persilscheinmaschinerie“ funktionierte offenbar auf der Grundlage weitreichender nationaler, auch institutioneller Loyalitäten, die über die Grenzen der politischen Lager hinweg verliefen. Am 23. Juli 1949 wurde Peter Clasen schließlich in die Kategorie IV („Mitläufer“) ohne Vermögenssperre eingestuft. In der Zusammenfassung seines Falls wurde vermerkt: „Auf Grund des guten Entlastungszeugnisses des Instituts für Eisenforschung wird der § 5 zugebilligt.“[7] Auch bei den Entnazifizierungen in der KWG wirkten die Idee einer Gemeinschaft und das Ziel der Kontinuität der Wissenschaftsinstitution KWG stärker als die Einzelheiten des Verhaltens der überprüften Personen. Diese Zielsetzung muss auch bei der Bewertung der Entlastungszeugnisse berücksichtigt werden und erklärt, warum zum Teil sehr positive und sogar falsche Entlastungszeugnisse verfasst wurden. Aus Sicht der Akteure sollten so die deutsche Wissenschaft gestärkt und das Weiterbestehen der KWG gesichert werden. Dieses Motiv gewann auch bei den für die Entnazifizierung zuständigen Behörden – sowohl den deutschen als auch den alliierten – nach 1946 zunehmendes Gewicht. Gerade im beginnenden Kalten Krieg sollte die Stabilität und Leistungsfähigkeit der westdeutschen Wissenschaft gestützt und nicht durch weitere Entlassungen geschwächt werden.[8] Diese Erklärung kann auf das KWIE übertragen werden.
Letzte Phase der Entnazifizierung
Am Ende der 1940er-Jahre bemühten sich deutsche wie alliierte Akteure zusehends darum, die Entnazifizierungsverfahren zu beenden. Etwa im Rheinland wurden im April 1949 alle bestehenden Ausschüsse aufgelöst und lediglich eine kleinere Anzahl neugebildet.[9] Im Februar 1952 wurde der Haupt- und Berufungsausschuss für den Regierungsbezirk Düsseldorf aufgelöst, der zuletzt als einziger Ausschuss für alle noch ausstehenden Verfahren in Nordrhein-Westfalen zuständig gewesen war.[10] Diese letzte Phase der Entnazifizierung war durch das Ziel eines „überstürzten Abschlusses“ geprägt, was von alliierter Seite vor allem durch die weiter wachsenden Spannungen zwischen den Westmächten und dem Ostblock erklärt werden kann. Zahlreiche Verfahren wurden schlicht eingestellt oder Amnestien erlassen.[11] Letztlich war das Ergebnis der Entnazifizierung in den westlichen Zonen insgesamt problematisch, weil Tausende politische Aktivisten und schwer Belastete lediglich als „Mitläufer“ eingestuft wurden.[12] Die Entnazifizierung scheiterte an den KWG-Instituten somit wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen an einem generellen Widerspruch zwischen politischer „Säuberung“ und gesellschaftlicher Normalisierung und Wiederaufbau, in dem sich sowohl die Politik der Westalliierten als auch das Agieren der beteiligten deutschen Akteure in den Jahren 1945 bis 1949 bewegte.[13] Insgesamt waren die Entlastungsstrategien vielfältig und hatten individuell unterschiedliche Wirkung. Insofern verliefen die Entnazifizierungsprozesse von Mitarbeitern einer Institution auch nicht einheitlich. Ein allgemein uneinheitliches Bild zeigt sich auch in den westlichen Besatzungszonen insgesamt. Die Entnazifizierung verlief von Zone zu Zone unterschiedlich. Die Entnazifizierungspolitik der Briten orientierte sich zwar an den amerikanischen Richtlinien, war jedoch stärker an pragmatischen als an ideologischen Erwägungen ausgerichtet. Die politische „Säuberung“ wurde langsamer, weniger intensiv und umfassend betrieben als in der amerikanischen Zone. Im Zweifelsfall hatte die Effizienz von Verwaltung und Wirtschaft den Vorrang gegenüber einer konsequenten Entnazifizierung. In der britischen Zone stand zunächst der Wiederaufbau des zivilen Lebens, der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung im Vordergrund.[14]
Die Haltung der (West-)Alliierten
Dieser Fokus zeigte sich auch in der wissenschaftspolitischen Orientierung der Briten, die in Bezug auf das KWIE und große Teile der KWG ins Gewicht fiel. Deutlich früher als die US- Amerikanischen Akteure zeigten die britische Militärregierung und die zuständigen Verantwortlichen die grundsätzliche Bereitschaft, die deutschen Wissenschaftsinstitutionen zu erhalten und zu fördern. Man war hier – wohl vor dem Hintergrund eines generell weniger ideologischen Ansatzes – schneller bereit, deutsche Institutionen und Akteure zu unterstützen und eine Kontinuität auf institutioneller und personeller Ebene zu akzeptieren. Dies hatte auch Auswirkungen auf den Verlauf der Entnazifizierung. Auch im zeitlichen Verlauf unterlag die Entnazifizierungspolitik in den Westzonen Wandlungen. Vor dem Hintergrund des 1947 eingeläuteten Kalten Krieges kam es dann zu Verschiebungen in der alliierten Strategie in den Westzonen. Dies zeigte sich in der alliierten Wissenschaftspolitik, auch von amerikanischer Seite. Das Ziel der Erhaltung und Förderung der deutschen Wissenschaftsinstitutionen wirkte einer durchgreifenden Entnazifizierung und Entfernung früherer Nationalsozialisten aus führenden Wissenschaftsfunktionen entgegen.[15] Im Oktober 1947 wurde die Durchführung der Entnazifizierung in der britischen Zone dann weitgehend den bereits bestehenden deutschen Entnazifizierungsausschüssen übertragen, die damit den andernorts begründeten Spruchkammern entsprachen. Dies wurde mit Verordnung Nr. 110 am 1. Oktober 1947 verfügt. Die Briten behielten sich lediglich die Oberaufsicht vor. Für die Kategorien I und II beanspruchten sie weiterhin die Alleinkompetenz.[16] In Nordrhein-Westfalen ging dann im Dezember 1947 die Zuständigkeit für die Entnazifizierung auf die Landesregierung über, die einen Sonderbeauftragten für die Entnazifizierung im Lande Nordrhein-Westfalen ernannte. Von nun an brauchten die Entscheidungen der Entnazifizierungsausschüsse nicht mehr von der britischen Militärregierung bestätigt zu werden, dennoch ließ sie sich weiterhin Bericht erstatten.[17]
Einzelnachweise
→ zum ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis
- ↑ Beyler: Reine Wissenschaft, S. 21, S. 44 f.
- ↑ Beyler: Reine Wissenschaft, S. 20.
- ↑ Beyler: Reine Wissenschaft, S. 20.
- ↑ Beyler: Reine Wissenschaft, S. 21.
- ↑ Hachtmann: Wissenschaftsmanagement Bd. 2, S. 1126-1142.
- ↑ Vgl. Hachtmann: Wissenschaftsmanagement Bd. 2, S. 1177-1187.
- ↑ LAV NRW, NW 1002-I-73702, Entnazifizierungsakte Peter Clasen, Case Summary, 23.07.1949, Einreihungsbescheid des Sonderbeauftragten für die Entnazifizierung im Lande Nordrhein-Westfalen, 23.07.1949.
- ↑ Siehe hierzu Beyler: Reine Wissenschaft, S. 44 f.
- ↑ Faust: Entnazifizierung.
- ↑ Faust: Entnazifizierung.
- ↑ Schlemmer: Gelungener Fehlschlag, S. 10-12, S. 23 f.
- ↑ Schlemmer: Gelungener Fehlschlag, S. 11 f.; Königseder: Das Ende der NSDAP, S. 159; Faust: Entnazifizierung.
- ↑ Ash: Ressourcenaustausche, S. 323.
- ↑ Königseder: Das Ende der NSDAP, S. 158; Vollnhals: Entnazifizierung, S. 24-29; Fürstenau: Entnazifizierung, S. 43; Heinemann: Wiederaufbau und Neugründungen, S. 419 f.
- ↑ Heinemann: Wiederaufbau und Neugründungen, S. 419 f.; Beyler: Reine Wissenschaft, S. 17 f.
- ↑ Königseder: Das Ende der NSDAP, S. 159; Faust: Entnazifizierung.
- ↑ Pädagogisches Institut: Nach dem Zweiten Weltkrieg, S. 180.