Feldpostbriefe an das KWIE und NS-Verbrechen

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Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen studieren die „Feldpostbrief-Tafel“ des Instituts, an der die Briefe und Karten der zum Krieg eingezogenen Arbeitskollegen ausgehängt wurden.

Während des Kriegs sandte das KWIE Mitteilungen, die sogenannten „Feldpostbriefe der Daheimgebliebenen“ an seine eingezogenen Mitarbeiter an die Front. Auch die Briefe, die die Mitarbeiter des KWIE von der Front schickten, wurden vervielfältigt und intern verbreitet. Sie wurden ebenfalls in den „Feldpostbriefen der Daheimgebliebenen“ abgedruckt. Diese Feldpostbriefe von der Front belegen, dass nationalsozialistische Einstellungen und ein radikaler Antisemitismus bei den Institutsangehörigen verbreitet waren und von der Institutsspitze mitgetragen wurden. Man kann sogar noch mehr beobachten: In verschiedenen Briefen berichteten die Soldaten immer wieder über ihre Beteiligung an antisemitischer Verfolgung, an der Übernahme von Funktionen im KZ-Lagersystem und an Kriegsverbrechen oder deuteten diese an.

Misshandlung von Juden

Während des Polenfeldzugs wurden von den übergeordneten Stellen die systematische Deportation der jüdischen Bevölkerung nach Osten, die Ghettobildung und die Ausbeutung im Rahmen der Zwangsarbeit betrieben. Die Ermordung von ca. 60.000 polnischen Intellektuellen, zu denen 7.000 Juden zählten, ging auf die Einsatzgruppen zurück. Die Wehrmacht war hier ebenfalls verwickelt. So kam es bereits während des Polenfeldzugs flächendeckend zu Drangsalierungen der einheimischen jüdischen Bevölkerung durch Wehrmachtsoldaten und zu ersten Massakern, die zum Teil gemeinsam mit der SS und den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD durchgeführt wurden. Verschiedene Massaker richteten sich auch gegen die polnische Zivilbevölkerung und polnische Kriegsgefangene.[1]

In einem Feldpostbrief berichtete der Werkstoffprüfer Hans Bausch aus der Mechanischen Abteilung am 29. September 1939 von seinen Erlebnissen während des Polen-Feldzugs. Dort hieß es: „Es kam ein paar Mal am Tage vor, daß wir in einem Dorf anhielten. Dann wurden sämtliche männlichen Einwohner, soweit man deren habhaft werden konnte, auf dem Marktplatz gesammelt, und wenn es sich um die bekannten Kaftanjuden handelte, trieben wir mit denen etwas Gymnastik.“ Bauschs Bericht zeugt von der brutalen Behandlung der polnischen Bevölkerung und besonders von der Durchführung demütigender Zwangshandlungen an einheimischen Juden, die Bausch in NS-typischer, antisemitischer Sprache als „Kaftanjuden“ bezeichnet. Es ist möglich, dass es sich bei dem Geschilderten um Massaker und erste Massentötungen handelte; dies kann aber nicht eindeutig geklärt werden.

Zugleich enthält der Bericht Bauschs Hinweise auf die Brandschatzung und Plünderung ganzer Dörfer und Landstriche. In dem Feldpostbrief hieß es weiter: „Dann hatten wir mal aus einem brennenden Schuhladen eine Anzahl Schuhe herausgeholt. […] In abgebrannten Dörfern brauchte man die lebenden Hühner und Gänse nur mitzunehmen und zuzubereiten, und gekochte Eier konnte man in Rauhen Mengen für 5 Pfg. kaufen.“[2] Seine kurze Schilderung über den Polen-Feldzug schloss Bausch mit den folgenden Worten ab: „An allem sieht man, daß der Krieg auch in Polen, obwohl nur von kurzer Dauer, seine lustigen Seiten hatte.“[3] Der Bericht wurde von Mitarbeitern des KWIE positiv aufgenommen. So hieß es in der Kommentierung des Berichts durch einen unbekannter Schreiber der Mechanischen Abteilung des KWIE, der zu den Daheimgebliebenen zählte: „ … und vielleicht wird es uns allen später leid tun, diese Soldatenzeit nicht miterlebt zu haben!“.[4]

Einsatz von Mitarbeitern im KZ-Lagersystem

Auch die Verfolgung von Juden und Gegnern des NS-Regimes in Deutschland und ihre Internierung im KZ-Lagersystem fanden in den veröffentlichten KWIE-Feldpostbriefen eine positive Darstellung. In diesem Zusammenhang kamen in den Feldpostbriefen des KWIE verschiedene Mitglieder der SS zu Wort. Von mindestens drei Institutsangehörigen ist bekannt, dass sie als Mitglieder der SS am Zweiten Weltkrieg teilnahmen. Dazu gehörten Adolf Dübgen aus der Verwaltung, Erich Wencker aus der Chemischen Abteilung und Kurt Wenzel aus der Metallographischen Abteilung. Wenzel befand sich im Oktober 1939 zu Ausbildungszwecken im Konzentrationslager Dachau, in dem sich zu diesem Zeitpunkt gerade keine Häftlinge befanden. So blieb das Lager von Oktober 1939 bis Februar 1940 der Ausbildung von 7.000 Angehörigen der SS-Totenkopf-Division vorbehalten. Ebenjenen Verbänden gehörte Wenzel gemäß seiner Schilderung an.[5] Am 21. Oktober 1939 berichtete Wenzel in der Feldpost aus dem KZ Dachau: „Seit 14 Tagen bin ich nun schon in Dachau, das sonst den Ruf hat, ein grosses Konzentrationslager zu besitzen. So ist es auch, aber die Häftlinge sind alle fort von hier, und in den früheren Häftlingsbaracken sind wir, die Männer der bewaffneten SS, untergebracht. Zum erstenmal habe ich ein Konzentrationslager gesehen, und es ist erstaunlich, was hier für vorbildliche Unterkunftsräume den Gefangenen dienten. Man kann sagen, dass diese Menschen 2. Klasse in der Gefangenschaft grosse Werte geschaffen haben.“[6]

Wenzel wurde dann in der Tat im Verlauf des Krieges zur Bewachung von KZ-Häftlingen eingesetzt, und auch dies wurde in der „Feldpost der Daheimgebliebenen“ unverhohlen und in zynischer Weise thematisiert. So teilte sein Arbeitskollege aus der Metallographischen Abteilung, Johann Rothländer, im „14. (9.) Feldpostbrief der Daheimgebliebenen“ vom Oktober 1941 den Angehörigen des Instituts mit: „SS-U’scharf. Kurt Wenzel hat sich zu seinem Vorteil verändert, wie er uns aus Wien schreibt. Kann ich mir denken, wenn man statt der Juden und sonstigen KZ-Gesichter hübsche Weaner Maderln zu sehen bekommt.“[7]

Bereits im Oktober 1939 hatte sich Wenzel beim Institut in einem Feldpostbrief ferner für den Erhalt des Buches „Albert Forster“ bedankt. Dabei dürfte es sich um den Titel „Albert Forster. Gauleiter von Danzig“ von Wilhelm Löbsack aus dem Jahre 1934 gehandelt haben.[8] Relevant ist an dieser Mitteilung nicht nur, dass die Leitung des KWIE offenbar Biografien von führenden Nationalsozialisten an ihre Betriebsangehörigen versandte, sondern auch Wenzels weitere Anmerkungen zu Forsters Rolle im deutschen Polenfeldzug. Hierzu schrieb Wenzel: „Gerade über Albert Forster habe ich in letzter Zeit viel aus wissendem Munde gehört; die ‚SS-Heimwehr-Danzig‘, die auch mit uns zusammen ist, erzählt manches.“[9] Forster und die SS-Heimwehr-Danzig waren unmittelbar nach dem deutschen Überfall im September 1939 für die tausendfache Ermordung von Angehörigen der polnischen und kaschubischen Intelligenz, von Patienten deutscher und polnischer Psychiatriekliniken sowie Deportierten aus dem Reichsgebiet im Wald von Piaśnica verantwortlich. Auch wenn es in Wenzels Aussagen nur angedeutet wird, muss davon ausgegangen werden, dass er über Kenntnisse dieser Kriegsverbrechen verfügte und mit seiner Anmerkung hierauf Bezug nahm.[10]

Die Darstellung von NS-Verbrechen in den Feldpostbriefen

Über Verfolgungsaktionen gegenüber den polnischen Juden und anderen Gegnern des Nationalsozialismus sowie über das KZ-System wurde in der KWIE-Feldpost, wie gezeigt, unter Verwendung eines spezifischen zynischen Codes relativ offen gesprochen. Zwar hatte die DAF die Schriftleitungen und Betriebsobmänner allgemein dazu angehalten, die eingehenden Feldpostbriefe der Soldaten gründlich auszuwerten. In dem Rundschreiben für die Betriebsobmänner und Betriebsführer im Gau Düsseldorf vom 20. Dezember 1939, welches von der DAF-Gauwaltung Düsseldorf herausgegeben wurde, heißt es dazu: „Sorgfältig sind die Nachrichten, die andere eingezogene Arbeitskameraden der Betriebsgemeinschaft sandten und die ganz oder auszugsweise in den Feldpostbriefen veröffentlicht wurden, zu überprüfen, ob sie nicht Meldungen enthalten oder Dinge andeuten, die geheimgehalten werden müssen.“[11] Die berichteten Verfolgungstatbestände zählten offenbar nicht zu dem, was für geheimhaltungswürdig angesehen wurde. An der Veröffentlichung der zitierten Briefe und Passagen im Rahmen der „Feldpost der Daheimgebliebenen“ zeigt sich vielmehr, dass die antisemitischen und nationalsozialistischen Haltungen und entsprechende Taten durch die Institutsangehörigen und durch die Institutsleitung mitgetragen wurden. Dies war auch Ausdruck eines allgemein in der NS-Kriegsgesellschaft verschobenen moralischen Rahmens, der antisemitische Verfolgung als Normalität betrachtete. So bildete ein in den Jahren 1933 bis 1945 von breiten Bevölkerungskreisen zunehmend geteilter und zunehmend radikaler Antisemitismus einen festen Bestandteil des mentalitätsmäßigen „Referenzrahmen des Nationalsozialismus“[12] Sönke Neitzel und Harald Welzer beschreiben in diesem Kontext den zunehmend radikalen Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft als Teil eines „Wertewandels im nationalsozialistischen Deutschland“, „der sich als fortschreitende Normalisierung radikaler Ausgrenzung bezeichnen“ lasse und in dessen Zuge „in verblüffend kurzer Zeit Menschengruppen aus dem Universum der sozialen Verbindlichkeit ausgeschlossen“ wurden – „aus jenem Universum also, in dem Normen wie Gerechtigkeit, Mitleid, Nächstenliebe etc. noch in Kraft sind, aber nicht mehr für diejenigen gelten, die per definitionem aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sind“.[13] Allgemein waren in der regulären Feldpost, die privat etwa an Familienangehörige verschickt wurde, antijüdische Stereotype, radikaler Antisemitismus und Antibolschewismus, auch aufgrund der entsprechenden Wehrmachtspropaganda, verbreitet. Teilweise wurde auch über Hinrichtungen und sogenannte „Säuberungsaktionen“, also „Vernichtungsaktionen“ etwa gegen Partisanen und Juden, berichtet. Insgesamt bildete die „Radikalisierung des Sagbaren im Nationalsozialismus“ sicherlich einen wichtigen Hintergrund für die in den Feldpostbriefen der Daheimgebliebenen am KWIE veröffentlichten Inhalte.[14]

Bildergalerie

Einzelnachweise

zum ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis

  1. Vgl. Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg, S. 43; Longerich: Davon haben wir nichts gewusst, S. 148 f.; Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden Bd. 1, S. 164-225; Kipp: Großreinemachen im Osten, S. 390-393.
  2. MPIE, 6-0-11, 1. Feldpostbrief der Daheimgebliebenen aus dem Eiseninstitut, 10.10.1939.
  3. MPIE, 6-0-11, 1. Feldpostbrief der Daheimgebliebenen aus dem Eiseninstitut, 10.10.1939.
  4. MPIE, 6-0-11, 1. Feldpostbrief der Daheimgebliebenen aus dem Eiseninstitut, 10.10.1939.
  5. Vgl. MPIE, 6-0-11, 2. Feldpostbrief der Daheimgebliebenen aus dem Eiseninstitut, 15.11.1939. Die Häftlinge wurden in diesem Zeitraum in anderen Konzentrationslagern interniert. Vgl. Zámečník, Stanislav: Dachau-Stammlager, in: Benz, Wolfgang /Distel, Barbara (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005, S. 233-274, hier S. 248; https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/voelkermord/kz-dachau.html (19.07.2018).
  6. MPIE, 6-0-11, 2. Feldpostbrief der Daheimgebliebenen aus dem Eiseninstitut, 15.11.1939
  7. MPIE, 6-0-11, 14. (9.) Feldpostbrief der Daheimgebliebenen aus dem Eiseninstitut, 20.10.1941.
  8. Löbsack: Albert Forster.
  9. MPIE, 6-0-11, 2. Feldpostbrief der Daheimgebliebenen aus dem Eiseninstitut, 15.11.1939.
  10. Vgl. Schenk: Hitlers Mann in Danzig.
  11. DAF-Rundschreiben: 20.12.1939, Inhalt von Feldpostbriefen der Betriebsgemeinschaften.
  12. Neitzel/Welzer: Soldaten, S. 47-56.
  13. Neitzel/Welzer: Soldaten, S. 61; vgl. ferner Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung.
  14. Manoschek: Vernichtung; siehe auch: Kipp: Großreinemachen, S. 183-336, S. 349-384; Ullrich: Wir haben nichts gewußt.