Alliierte Wissenschaftsmissionen

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Das British Intelligence Objectives Subcommittee (BIOS) befasste ich in drei Berichten mit dem KWIE. Einer davon, der Bericht Nummer 205 befasst sich ausschließlich mit dem Institut und seinen Arbeiten.

Als die Truppen der westlichen Alliierten ab 1944 durch die besetzten Gebiete und ins Deutsche Reich vordrangen, folgten ihnen viele Teams von Wissenschaftler, Ingenieuren und Technikern.[1] Die Aufgabe dieser Teams war, Informationen über technische und wissenschaftliche Forschungen und Entwicklungen während der Kriegsjahre zu sammeln. Insofern waren nahezu alle großen Rüstungsunternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen von Interesse – so auch das KWIE. Diese Teams bestanden oft aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachbereiche, aus Truppen, die sie beschützen und Gefangene bewachen sollten, und aus Pionieren, die beschlagnahmtes Material und technische Ausrüstung abbauen und abtransportieren sollten.[2] Insgesamt waren in den letzten Kriegsmonaten und der frühen Nachkriegszeit allein zwischen 3.000 und 4.000 britische und US-amerikanische Teams in Deutschland unterwegs.[3] Einige der daran beteiligten Experten hatten vor dem Krieg in Deutschland studiert oder gearbeitet – teilweise sogar in den Einrichtungen, die sie nun untersuchten, oder mit den Wissenschaftlern, die sie befragten.[4]

Die verschiedenen Wissenschaftsmissionen

Oft werden die Aktionen der unterschiedlichen Teams in der Literatur als „ALSOS-Missionen“ zusammengefasst.[5] Die ALSOS-Mission war jedoch nur eine der vielen Missionen in diesem Bereich und wurde sowohl wegen ihres Fokus auf die Nuklearforschung als auch durch die Veröffentlichung von Büchern durch leitende Mitglieder der Mission 1947 und 1962 zur bekanntesten.[6] Daneben wurden wissenschaftliche Missionen jedoch auch vom British Intelligence Objectives Subcommittee (BIOS), dem Combined Intelligence Objectives Subcommittee (CIOS), der US-amerikanischen Field Intelligence Agency, Technical (FIAT) und anderen Behörden und Organisationen ausgesendet.[7] All diese Missionen hatten ein ähnliches Vorgehen: Sie beauftragten kleine Teams, die oft aus mit dem Untersuchungsgebiet vertrauten Wissenschaftlern bestanden und sich jeweils mit nur einem einzigen, eng definierten Wissensgebiet befassten. Dazu befragten sie in Deutschland Wissenschaftler, werteten zahllose Akten aus und stellten gegebenenfalls Ausrüstung sicher, die für die Alliierten sowohl militärisch als auch wissenschaftlich oder industriell hilfreich sein könnte.[8] Nach ihren Missionen in Deutschland verfassten diese Teams technische Berichte und Zusammenfassungen. Diese befassten sich entweder mit speziellen Einrichtungen oder mit ganzen Industriezweigen.[9]

Das KWIE im Fokus alliierter Untersuchungen

Das KWIE stand wegen seiner Bedeutung für die deutsche Metallforschung und damit auch für die Rüstungsforschung im Fokus alliierter Interessen. Für die alliierten Untersuchungen waren besonders die unpublizierten Forschungs- und Untersuchungsergebnisse interessant. Die politische Verstrickung von Institutsangehörigen wie die Mitgliedschaft in der NSDAP spielten – anders als für die Entnazifizierung – in diesem Kontext keine Rolle. Auch die Frage, inwiefern die Forschungen des KWIE zu Rüstung und Kriegseinsatz beigetragen hatten, wurde nur am Rande thematisiert. Stattdessen wurden nur die technischen Details der Forschungsergebnisse des KWIE berichtet. Hauptzweck der Untersuchungen war es, diese Forschungsergebnisse für die alliierte Eisen- und Stahlindustrie nutzbar zu machen. Ähnlich wie an anderen Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft führten diese Untersuchungen zu einem intensiven Wissenstransfer zugunsten der Alliierten, der auch die folgende unmittelbare Nachkriegszeit prägte. Zu einer Abwerbung führender Wissenschaftler ins Ausland kam es am KWIE aber nicht – anders als beispielsweise beim KWI für Metallforschung.[10]

Befragungen von KWIE-Angehörigen

Eine zentrale Vorgehensweise der alliierten Wissenschaftler-Teams war die Befragung deutscher Wissenschaftler. Die englischsprachigen Quellen nutzen in diesem Zusammenhang die Begriffe „interrogated“ und „interrogation“. Die Vorgänge können – soweit sie sich rekonstruieren lassen – jedoch eher als Befragungen denn als Verhöre beschrieben werden. Sie wurden wahrscheinlich auf Deutsch bzw. mithilfe von Übersetzern durchgeführt, da im Zuge der Befragung von Werner Lueg explizit vermerkt wurde, dass er aufgrund seiner sehr guten Englischkenntnisse ohne Übersetzer befragt werden konnte.[11]

Die meisten deutschen Wissenschaftler wurden direkt vor Ort in Deutschland befragt, andere wurde in Großbritannien interniert und befragt – insbesondere jene, deren Kenntnisse den Alliierten besonders wichtig schienen. Am bekanntesten sind die Befragungen von zehn deutschen Nuklearwissenschaftlern (Erich Bagge, Kurt Diebner, Walther Gerlach, Otto Hahn, Paul Harteck, Werner Heisenberg, Horst Korsching, Max von Laue, Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl Wirtz), die von Juli bis Dezember 1945 in Farm Hall bei Godmanchster in Cambridgeshire interniert waren und dort befragt und zusätzlich heimlich abgehört wurden.[12] Die allermeisten KWIE-Angehörigen wurden vor Ort in Clausthal, wohin das KWIE während des Krieges verlegt worden war, und Düsseldorf befragt – zunächst von US-amerikanischen Wissenschaftlern, dann von britischen. Lediglich Werner Lueg, der zwischen Juli und September 1946 in England interniert war, wurde dort befragt.[13] Der erste alliierte Wissenschaftler, der KWIE-Angehörige befragte, war Dr. Allan Bates, der für die ALSOS-Mission den Bereich Metallforschung und die Befragungen in diesem Umfeld leitete.[14] Bates traf am 17./18. April in Clausthal ein, wo er mit der Befragung von Willy Oelsen und Anton Pomp begann. Beide waren laut Bates „very cooperative“ und führten ihn zu allen Laboren und Büros. Dort beschlagnahmte Bates die Forschungsakten der vergangenen zwölf Jahre sowie Schlüsselakten, etwa die Jahresberichte und Berichte des Direktors und die als geheim gekennzeichneten Akten des verstorbenen Friedrich Körbers, der als Fachspartenleiter für Stahl und Eisen im Reichsforschungsrat ein eigenes Büro in Clausthal unterhalten hatte.[15] Zusätzlich wurden in Clausthal unter anderem Peter Bardenheuer und Walter Luyken über ihre Forschungsaktivitäten befragt und angewiesen, sich in Clausthal zur Verfügung zu halten.[16]

Im Juni 1945 wurden die amerikanischen Truppen in Clausthal von den Briten abgelöst. Mit den Truppen kamen auch Wissenschaftler, die sich nicht nur mit militärisch relevanten Forschungen befassten, sondern auch mit Fragen der zivilen Forschung – wie die vom KWIE betriebene Materialforschung. Die Briten befragten rund 20 wissenschaftliche Institutsmitarbeiter, die meisten im September und Oktober 1945 in Clausthal.[17] Unter den Befragten waren die Abteilungs- oder Laborleiter Walter Luyken, Heinz Kaiser, Peter Bardenheuer, Maria Waterkamp, Helmut Maetz, Anton Pomp, Max Hempel und Alfred Krisch.[18] Die Institutsmitarbeiter verfassten 84 Berichte über laufende, aber noch nicht veröffentlichte Arbeiten, die unter anderem im BIOS Report 676 detailliert aufgelistet sind.[19] Darüber hinaus wurde Franz Wever, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt war, am 6. November befragt.[20] Von den Briten nicht befragt wurden Willy Oelsen, der zu dieser Zeit interniert war, und Werner Lueg, der sich in Düsseldorf und später in England aufhielt, wo er zwischen Juli und September 1946 befragt wurde.[21]

Für die KWIE-Mitarbeiter waren die Befragungen eine besondere Erfahrung. Franz Wever berichtete später über die ersten Aktivitäten der Alliierten am Institut, die er wegen seiner Internierung jedoch nicht selbst miterlebt hatte und nur aus Erzählungen von Kollegen kannte: „Wenige Tage nach der Besetzung von Clausthal erschien die erste Kommission zur wissenschaftlichen Ausbeutung des Instituts. In eingehenden Vernehmungen wurden sämtliche Arbeiten überprüft und im Zusammenhang damit die Abfassung schriftlicher Berichte befohlen.“[22] Willy Oelsen führte in den 1960er-Jahren dazu aus: „Ich sehe die Zeit nach der Besetzung mit etwas anderen Augen, wenn ich auch nur die ersten vier Monate in Freiheit erleben konnte. Diese Zeit der sanften Gewalt der Ausfragung, des Verlangens von Berichten über die ausgefallensten Arbeiten des Institutes bewies, mit welcher Aufmerksamkeit auch während des Krieges jede unserer Veröffentlichungen verfolgt und jeder Hinweis auf ihre Hintergründe ausgedeutet worden war. Uns wurde damals aus den Fragen erst klar, wie weit die Welt in Metallurgie und Metallkunde vorangeschritten, welche Fülle von Ergebnissen aber auch bei uns zusammengekommen war.“[23]

Die Bewertung des KWIE in den Untersuchungsberichten

Die Schlüsse, die die alliierten Wissenschaftler aus den Befragungen von KWIE-Mitarbeitern zogen, fassten sie in einer Reihe von Berichten zusammen. Insgesamt zeichnen diese Berichte ein positives, weitgehend unpolitisches Bild von der deutschen Wissenschaft, das zumindest bei den wissenschaftlichen Beratern des amerikanischen und britischen Militärs weit verbreitet war. Besonders deutlich wird dies in den Zusammenfassungen von Allan Bates. Er bewertete „most of the research work“ als Fortsetzung der Forschungsarbeiten „carrried out in peace time“[24] Die Relevanz des Instituts und seiner Forschungen für militärische Anwendungen sei dagegen gering gewesen. Die Wissenschaftler hätten sich insgesamt nur zu einem geringen Grad in den Dienst der deutschen Kriegsanstrengungen gestellt und hätten nur wenige geheime Studien durchgeführt. Der Großteil der Studien sei veröffentlicht worden und Menschen in aller Welt zugänglich gewesen.[25] Dagegen betonte er den traditionellen Beitrag der deutschen Wissenschaft zur weltweiten Verbesserung der Lebensbedingungen.[26] Darüber hinaus verstand Bates die deutsche wissenschaftliche Elite sogar als eine Schicht, die zum Aufbau eines neuen Nachkriegsdeutschlands viel beitragen könne, weil sie international ausgerichtet sei.[27]

Bates’ Einschätzung ist durchaus typisch für die Berichte alliierter Wissenschaftler. Über den Krieg hinaus und die Kriegsfronten hinweg hatte auf Seiten der Alliierten die Idee einer überpolitischen scientific community eine solche Wirkungsmacht behalten, dass das KWIE im Rahmen der alliierten Missionen trotz deren erheblicher Verstrickung in die NS-Kriegs- und Rüstungswirtschaft als entlastet eingestuft wurde. In Bezug auf die Durchführung der Alliierten Missionen an den Instituten der KWG kommt Manfred Heinemann entsprechend zu folgendem Schluss: „Es gab also doch so etwas wie eine internationale Verbrüderung der Wissenschaftler, die selbst diesen Krieg überstand und sich nun zugunsten der Deutschen auswirkte.“[28] Die KWG wurde nach wie vor als Teil der internationalen scientific community begriffen. Teilweise kannten Wissenschaftler aus der Zeit vor dem Krieg die Arbeitsergebnisse der anderen oder waren sich sogar persönlich begegnet. Das erklärt auch, warum die Befragungen durch die alliierten Kommissionen an den allermeisten Kaiser-Wilhelm-Instituten in der Regel in kollegial-freundschaftlicher Atmosphäre abliefen. Keines der Institute wurde vollständig geschlossen oder demontiert, so dass die meisten Institute ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten. Manfred Heinemann gibt an, dass das KWI für Metallforschung im Zuge des alliierten Feldzugs vollständig demontiert worden sei und dies eine Ausnahme bildete.[29] Folgt man der ausführlichen Darstellung Helmut Maiers ergibt sich ein differenzierteres Bild, zwar nahm die französische Besatzungsmacht umfassende Requisitionen vor, das Institut bestand aber an seinen verschiedenen (Verlagerungs-)Standorten weiter.[30] Oft zogen die Alliierten direkten wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Nutzen aus der Arbeit der Institute.[31]

Einzelnachweise

zum ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis

  1. Maier: „Wehrhaftmachung“ und „Kriegswichtigkeit“, S. 23.
  2. Beck/Bortz/Lynch/Mayo/Weld: The Technical Services, S. 557. https://history.army.mil/html/books/010/10-22/CMH_Pub_10-22.pdf
  3. Maier: „Wehrhaftmachung“ und „Kriegswichtigkeit“, S. 23.
  4. Maier: „Wehrhaftmachung“ und „Kriegswichtigkeit“, S. 23-24.
  5. Flachowsky: Wagenburg, S. 689.
  6. Goudsmit: ALSOS.
  7. https://www.loc.gov/rr/scitech/trs/trsgencoll.html
  8. Beck/Bortz/Lynch/Mayo/Weld: The Technical Services, S. 556. https://history.army.mil/html/books/010/10-22/CMH_Pub_10-22.pdf
  9. https://www.loc.gov/rr/scitech/trs/trsgencoll.html
  10. Vgl. Maier: Forschung als Waffe Bd. 2, S. 934-952.
  11. BIOS Report 1177, S. 1.
  12. Frank: Operation Epsilon3, S. 1 f.; Mackrakis: Surviving the Swastika, S. 181.
  13. LAV NRW, NW 1002-C-61779, Entnazifizierungs-Akte Werner Lueg, Fragebogen der Militärregierung, 14.04.1948.
  14. Bates: Summary Report.
  15. Bates: Summary Report.
  16. Bates: Summary Report.
  17. BIOS Report 676.
  18. BIOS Report 676.
  19. BIOS Report 676.
  20. BIOS Report 205.
  21. MPIE, Personalakte Professor Oelsen (Alte Akte), Bescheinigung Anton Pomps betr. Willy Oelsen, 04.09.1945; BIOS Report 1177, S. 1; LAV NRW, NW 1002-C-61779, Entnazifizierungs-Akte Werner Lueg, Fragebogen der Militärregierung14.04.1948.
  22. VDEh, Ac 207, Band II, Bericht über den Wiederaufbau des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Eisenforschung seit Kriegsende, 28.01.1949.
  23. Oelsen: Festvortrag, S. 928.
  24. Bates: Summary Report.
  25. Bates: Summary Report.
  26. Bates: Summary Report.
  27. Bates: Summary Report.
  28. Heinemann: Wiederaufbau und Neugründungen, S. 417.
  29. Heinemann: Wiederaufbau und Neugründungen, S. 417.
  30. Maier: Forschung als Waffe Bd. 2, S. 934-952.
  31. Maier: Forschung als Waffe Bd. 2, S. 939-943.